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Aufgrund des Beschneidungsurteils tobt im Moment die Empörung. Aber ist sie konsequent oder in ihrer Konsequenz nur Heuchelei? Eine Betrachtung im Lichte der deutschen Grundrechte.

Was ist passiert?

Das Landgericht sprach einen Arzt nur deshalb vom Vorwurf der Körperverletzung frei, weil er ja nicht hätte wissen können, dass eine muslimische Beschneidung (auch Zirkumzision, jüdisch Brit Mila) strafbar ist. Er habe also zwar „tatbestandlich“ eine Körperverletzung begangen, sei aber „entschuldigt“ wegen seines „unvermeidbaren“ Irrtums. Wegen dieses taktischen Freispruches, konnte der Arzt keine Revision mehr beim BGH einlegen – er ist ja frei.

I. Vorreden
1. Allgemein ist zu bemerken, dass die Beschneidung ein eine Übung und ein Ritual vor allem, aber nicht nur der Juden und Muslime ist. Auch die Christen feiern die „Beschneidung des Herrn„, den Tag, an dem Jesus Christus beschnitten wurde. Deutschland bezahlt Bestrebungen der WHO die Beschneidung zu verbreiten, um die AIDS-Gefahr zu verringern (es kann dahingestellt bleiben, ob das ein wirksames Mittel gegen HIV ist). Mindestens ein Viertel der männlichen Weltbevölkerung ist beschnitten. Nur ein verschwindend geringer Teil aber ist damit unzufrieden. Ein Verbot der Beschneidung wurde in der Geschichte immer wieder eingeführt, um Juden zu verfolgen und zu unterdrücken.

2. Das Thema ist komplex, da man Verhältnismäßigkeiten abwägen muss und die Gerechtigkeit tangiert wird. Die Gerechtigkeit wird hier nur durch das Grundgesetz mit seinen Grundrechten repräsentiert, die weitgehend zu den Menschenrechten der EMRK identisch sind.

3. Grundrechte (und genauso Menschenrechte) sind zu einem Teil absolut und zu einem Teil relativ. Fällt etwas in ihren Kernbereich, so sind sie absolut. Während relative Grundrechtsbeeinträchtigungen durch ein einfaches Gesetz begründet werden können, dürfen absolute Beeinträchtigungen nur durch Gesetze beeinträchtigt werden, die sich selbst auf andere Grundrechte berufen. Kollidieren zwei Grundrechte so miteinander, muss abgewogen werden, welches höher wiegt.

4. Bei der Abwägung aller Grundrechte geht man traditionell davon aus, dass jedes gleich wichtig ist. Das gilt auch für die Religionsfreiheit. Nur die Menschenwürde steht über allen.

II. Hauptteil

1. Wie groß sind die Eingriffe in Grundrechte bei der männlichen Beschneidung oder deren Verbot?

a. Eingriff in Körperliche Unversehrtheit (Art 2 I GG).

Zum Kernbereich des Grundrechtes gehört das Leben des Menschen ab seiner Zeugung. In die körperliche Unversehrtheit darf durch einfaches Gesetz eingegriffen werden, um Leben zu töten, Körperteile zu entfernen oder Schmerz zuzufügen. Diese Gesetze müssen sich natürlich an der restlichen Verfassung orientieren. Solche Gesetze gibt es, sie erlauben etwa, dass man Organe transplantiert, abtreiben darf, ein Arzt nicht nur heilen, sondern auch kosmetische Operationen vornehmen lassen darf. Im BGB gibt es die Erlaubnis, dass Eltern für ihre Kinder all diese Fragen entscheiden können.

Um einen Vergleichsmaßstab zu haben, kommt hier eine Liste von Eingriffen, die Eltern erlauben dürfen. Eltern dürfen Tattoos, Piercing, Brustvergrößerung/-verkleinerung, sonstige SchönheitsOPs erlauben. Bei Kindern bis 14 entscheiden sie allein, ob ihre Tochter, die ungeplant schwanger ist, das Kind austragen muss (Das ungeborene Kind ist schon vom Schutz des Grundrechtes erfasst!) – also, ob ein Mensch leben darf oder ob die Tochter das Kind abtreiben muss, also ob ein Mensch sterben muss und die Tochter erheblichen Risiken ausgesetzt wird, die regelmäßig mit einem Schwangerschaftsabbruch einhergehen:

  • 92,6 % starke Schuldgefühle
  • 88,0 % Depression
  • 82,3 % Verlust des Selbstwertgefühls
  • 75,5 % Verlust des Selbstvertrauens
  • 63,1 % Flashbacks (blitzartige Erinnerungen an die Abtreibung im Wachzustand)
  • 55,8 % Selbstmordgedanken
  • 50,8 % hysterische Weinkrämpfe

Daneben gibt es noch körperliche Folgen von Unterleibskomplikationen über „nur“ Unfruchtbarkeit, Fehlgeburten bis hin zu lebensbedrohlichen Infektionen.

Fast alle diese Entscheidungen der Eltern haben lebenslange und nicht nur positive Folgen. Der Schwangerschaftsabbruch trifft gleich drei Mal den Kernbereich des Grundrechts:

  1. wenn der Ungeborene (Nasciturus) getötet wird,
  2. wenn die Unfruchtbarkeit und das Leben der Schwangeren 14-jährigen riskiert wird und
  3. wenn der Tochter die Schwangerschaft, eine Grundfunktion des menschlichen Lebens erzwungen oder verhindert wird.

Bei der Vorhautbeschneidung hingegen liegt wohl kein Eingriff in den Kernbereich des Grundrechts vor und selbst, wenn ist er in seinen Auswirkungen nicht vergleichbar mit dem Schwangerschaftsabbruch. Durch die Vorhautbeschneidung wird die Fortpflanzung im Gegensatz zum Schwangerschaftsabbruch nicht grundsätzlich verhindert. Die ebenso mögliche Komplikation einer Unfruchtbarkeit ist weitaus seltener. Die Veränderung des Sexualverhaltens ist zwar „nur“ eine kosmetische, aber es ist nicht zu verhehlen, dass mit der Vorhaut auch luststeigernde Nerven mit abgeschnitten werden. Dass mindestens 1/4 aller Männer weltweit beschnitten sind und nur ein mikroskopischer Bruchteil davon damit Unzufriedenheit äußert zeigt, dass ein erheblicher Teil der Menschen Beschneidung nicht als großen Eingriff ansieht.

Da aber weder die Sexualität überhaupt noch die Zeugungsfähigkeit im Normalfall behindert werden und dies auch nicht beabsichtigt ist, sehe ich bei der männlichen Beschneidung erstens keinen Eingriff in den Kernbereich des Grundrechtes und zweitens ist dieser Eingriff der gewollten und ungewollten Folgen deutlich geringer als beim Schwangerschaftsabbruch oder der Verpflichtung zur Schwangerschaft eines Teenagers.

b) Eingriff in die Erziehungsfreiheit (Art 6 GG).

Das Grundgesetz hat (nicht zuletzt aus den bösen Erfahrungen mit dem Antisemitismus der Aufklärer und in Nazideutschland) den Eltern das alleinige Erziehungsrecht gegeben. Erst, wenn eine Missbrauch dieses Rechtes erkennbar ist, darf der Staat einschreiten. Es ist anerkannt, dass zu diesem Recht im Kernbereich gehören: Aufenthaltsrecht (Wer seine Kindern „Stubenarrest“ befiehlt, erfüllt den Tatbestand der Freiheitsberaubung, der genauso bestraft wird wie Totschlag), Entscheidungen über die körperliche Unversehrtheit (Piercing, Schwangerschaftsabbruch, Schönheitsops) und über die Religion. Die Entscheidung über die Religion des Kindes gehört unumstritten zum Kernbereich dieses Rechtes. Diese Zugehörigkeit zum Kernbereich wird aber in jüngster Zeit von Atheisten in der Tradition der Aufklärer entgegen der eindeutigen Verfassungslage gerne bestritten.

c) Eingriff in die Religionsfreiheit (Art. 4 GG). Da nach Art. 6 GG die Eltern die Religion ihres Kindes bestimmen dürfen (jedenfalls bis es selbst einsichtsfähig ist), dürfen die Eltern auch und gerade für ihren Säugling die Religionszugehörigkeit entscheiden. Jetzt wird es theologisch. Juden entscheiden sich eigentlich nicht für die Religion ihrer Kinder, sondern bestätigen (nach ihrer religiösen Ansicht nur) Gottes Entscheidung, dass alle ihre Kinder auch Juden sein sollen. Vom säkularen Staat aus gesehen wird das aber als Entscheidung gewertet. Dies tun sich ganz selbstverständlich am Tag der Geburt. Die Beschneidung ist eine der Kernpflichten ihrer Religion, die aus dieser Entscheidung folgt (1. Mose 17, 9-14):

9 Und Gott sprach zu Abraham: So haltet nun meinen Bund, du und deine Nachkommen von Geschlecht zu Geschlecht. 10 Das aber ist mein Bund, den ihr halten sollt zwischen mir und euch und deinem Geschlecht nach dir: Alles, was männlich ist unter euch, soll beschnitten werden; 11 eure Vorhaut sollt ihr beschneiden. Das soll das Zeichen sein des Bundes zwischen mir und euch. 12 Jedes Knäblein, wenn’s acht Tage alt ist, sollt ihr beschneiden bei euren Nachkommen. Desgleichen auch alles, was an Gesinde im Hause geboren oder was gekauft ist von irgendwelchen Fremden, die nicht aus eurem Geschlecht sind. 13 Beschnitten soll werden alles Gesinde, was dir im Hause geboren oder was gekauft ist. Und so soll mein Bund an eurem Fleisch zu einem ewigen Bund werden. 14 Wenn aber ein Männlicher nicht beschnitten wird an seiner Vorhaut, wird er ausgerottet werden aus seinem Volk, weil er meinen Bund gebrochen hat.

Die Beschneidung selbst stellt also keine Entscheidung der Religionszugehörigkeit dar, aber wohl eine Kernpflicht in ihrer Religion und gehört damit ganz sicher zum Kernbereich der Religionsfreiheit für Juden. Bei Muslimen ist das ein wenig anders. Die Beschneidung steht nicht im Koran, sondern gehört zur „Sunna“ (Tradition), die wohl nur für die Hauptströmung der Sunniten verbindlich ist. Aber zumindest bei diesen ist sie eine Kerntradition.

d) Eingriff in das Diskriminierungsverbot nach Art 3 GG.

Zumindest für Juden sind hier zwei Schutzgüter einschlägig: Benachteiligung wegen Religion und Abstammung/Rasse (da sie selbst sich bzw. nach ihrer Ansicht Gott sie rassisch als biologisches „Volk“ definieren). Benachteiligung ist die Ungleichbehandlung von Gleichem oder die Gleichbehandlung von Ungleichem ohne sachlichen Grund. Gleich schwere Eingriffe in das Recht auf körperliche Unversehrtheit müssen nach diesem Gebot gleich behandelt werden. Wenn die Abtreibung einen gleich gravierenden oder schwereren Eingriff wie die männliche Beschneidung darstellt, muss die Beschneidung den Eltern des Kindes unter den gleichen Bedingungen erlaubt werden, wie die Abtreibung ihres Teenagers. Wenn die Abtreibung aber einen weit größeren Eingriff darstellt – was nach obiger Beschreibung näher liegt – muss die Beschneidung noch viel leichter erlaubt werden.

2. Abwägung:

Ich stelle also fest: Wenn die Eltern über eine männliche Beschneidung entscheiden, stehen der Kernbereich zweier Grundrechte sowie das Diskriminierungsverbot auf ihrer Seite. Ob der Kernbereich des Grundrechtes auf körperliche Unversehrtheit durch die Beschneidung überhaupt betroffen ist, ist mehr als zweifelhaft. Aber selbst dann wäre der Eingriff deutlich geringer als bei einer Teenagerschwangerschaft, die einen dreifachen Eingriff in den Kernbereich bedeutet und den Eltern ebenso zur Disposition gestellt wird. Dies gilt aber nicht nur für Eltern von Teenagern, dort aber dreifach. Schon die erwachsene Frau, die abtreibt, greift in des Kernrecht ihres ungeborenen Kindes ein, dass schon vom Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit erfasst ist. Wenn Sie das darf, darf sie nach dem Gleichheitsgrundsatz es erst Recht nach seiner Geburt beschneiden, das ist ja wohl ein geringerer Eingriff, als es zu töten.

III. Fazit
Solange in Deutschland eine Fristenregelung für den Schwangerschaftsabbruch existiert, Eltern (von Teenagern) also keine, nicht einmal religiöse Gründe brauchen, um (ihre Tochter zum Abbruch zu zwingen oder selbst) abzutreiben und einen ungeborenen Menschen zu töten, muss die Abwägung genauso eine männliche Beschneidung (zumindest bei Juden) erlauben.

Nur, wenn statt der geltenden Fristenregelung die Abtreibung als Indikationsregelung (Abtreibung nur mit guten Gründen erlaubt) Gesetz wäre, könnte man überhaupt realistisch, ohne Heuchelei daran denken, über ein Verbot der religiösen Beschneidung nachzudenken.

Daher frage ich alle Gegner der Beschneidung: Wie halten Sie es mit der Abtreibung? Was unternehmen Sie diesbezüglich?

Weitere interessante Aufsätze und Schriften zum Thema

P.S: Nur zur Sicherheit: Dass weibliche Beschneidung eine Genitalverstümmelung darstellt, die durch nichts zu rechtfertigen ist, weil sie im Gegensatz zur männlichen Beschneidung in jedem Fall lebenslange Schmerzen, ein erhöhtes Risiko für Komplikationen bei der Geburt sowie eine völligen Verlust der sexuellen Freude bedeutet und so im Ergebnis eine menschenunwürdige Demütigung darstellt, sollte außer Frage stehen.

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